Mittwoch, Februar 27

zur Tangogeschichte - 9

Tango und Gesellschaft nach 1917:
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Auch die Überwindung der elementaren Speilweise der frühen Tangoorchester ist das Ergebnis eines mehrjährigen Prozesses, der wesentlich mit der Steigerung der Leistungsfähigkeit der Musiker und zugleich mit dem gesellschaftlichen Funktionswandel des Tango bzw. mit der Veränderung der Gesellschaftsstruktur Argentiniens zusammenhängt. Die Musik des Tango und ihre Umsetzung in die Provokation unzüchtig anmutender Körperbewegungen oder der in den frühen Kompositionstiteln zum Ausdruck gebrachte Verstoß gegen Sitte und Anstand entspricht nicht mehr den sichtbaren Machtverhältnissen. Jenes Konglomerat von entwurzelten und rechtlosen Ein- und Zuwanderern, das im Elend der Arrabales und Conventillos vegetierte, hat ökonomisch, politisch und kulturell eine vergleichsweise bessere Position errungen. Auch für diejenigen, die Yrigoyen indifferent oder ablehnend gegenüberstehen, symbolisiert sein Regierungsantritt eine neue Äre demokratischer Mitbestimmung und Verantwortung. Der Tango bleibt zwar ein Mittel der antielitären Selbstbehauptung, nur werden die ästhetischen Ansprüche entsprechend dem eigenen Aufstieg wieder nach oben gesteckt. Aus der Provokation wird eine Demonstration der eigenen Leistung, in die man bald selbst so vernarrt ist, daß man sie kaum noch körperlich erfassen und umsetzen möchte. Das kulturelle Vorzeigeobjekt wird musikalisch auch zunehmend schöner herausgeputzt. [...]

Es sind vor allem die Texte, die die publikumsverdünnende Sublimierung des Tango verhindern. Sie geben ihm zum Ärgernis kunsterpichter Genießerohren die Erdenschwere einer nationalen Wirklichkeit, deren gesellschaftliche Probleme auch während der Kurzen Demokratiephase bis 1930 keine Lösung finden. Selbst wenn diese Probleme in ihnen nur partiell und indirekt zum Ausdruck kommen, lassen sie den Tango nicht in die Region geschmäcklerischer Kunstadepten entschweben, sondern halten ihn in den Schichten der Bevölkerung fest, für die die Geschichte des Tango ein Teil der eigenen ist. Oder umgekehrt. Es ist das Massenpublikum, das sich gegenüber Virtuosentum und Spezialisten durchsetzt und sich den Tango als Ausdrucksform seiner eigenen emotionalen Bedürfnisse vorbehält.
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Dieter Reichardt, Tango

Samstag, Februar 23

Randnotizen um Tango - 9


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In der Küche war es dunkel. Wieder mal gab es keinen Strom und damit kein Licht. Im Finstern hörte man die watschelnden Schritte des Pinguins Mischa. Der war im Herbst vor einem Jahr in Viktors Leben aufgetaucht, als der Zoo hungrige Tiere an alle Leute verschenkte, die in der Lage waren, sie zu füttern. Viktor holte sich damals einen Königspinguin. Eine Woche vorher hatte ihn seine Freundin verlassen. Er hatte sich einsam gefühlt. Aber der Pinguin Mischa brachte seine eigene Einsamkeit mit, jetzt ergänzten sich die beiden Einsamkeiten, was eher den Eindruck einer gegenseitigen Abhängigkeit als den einer Freundschaft weckte.
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Andrej Kurkow, Picknick auf dem Eis
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Tango ist manchmal ein entlassener Königspinguin, der unerwartet in den Leben auftaucht und die Einsamkeiten  aneinander anknüpft, ohne ein Wort, still und unbemerkt...
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Freitag, Februar 15

Zum Tangotanzen - 4


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Thought is too slow for the state that one must have to dance. Those absent attitudes of "I am thinking about something important" while they look at their feet or of "I am relaxed" if you don’t know what you are doing, are a pose and a deficiency. You can check it by asking good female dancers who get bored when led in that way. It is sad to see young men engrossed contemplating themselves while they miss enjoying the beauties they have in front of them.

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To dance thinking is the least advisable way, it restricts to the maximum every creative impulse. Dance is emotion, senses, instinct.
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Pablo Verón, aus einem Interview mit  Carlos Bevilacqua für El Tangauta

Mittwoch, Februar 13

zur Tangogeschichte - 8

Die frühe Aufnahmen und der Aufstieg des Tangos:
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The first 30 years of the 20th century sum up the creative process of the Tango both in technical and musical terms. Primitive mechanical systems acoustically recorded early music. The first electrical recordings started in 1926. These were undoubtedly the best decades of tango, a time of amazing production both in terms of quantity and quality of songs played by numerous performers. For the first time, tango became successful outside its birthplace, reaching audiences in Europe and the rest of the Latin America and North America. Great Composers such as Rosendo Mendizabal, Angel Villoldo, Ernesto Saborido, Eduardo Arolas, Ernesto Ponzio, Agustin Bardi, Gerardo Matos Rodriguez, and Vicento Greco created some of their best work during this period. They composed timelss classics such as 'El entrerriano,' 'La cumparsita,' 'El choclo,' 'La morocha,' 'Don Juan,' 'El lloron,' 'Que noche,' 'La cachila,' and 'Ojos negros.'

The world's most prominent recording companies set up shop in Buenos Aires, and Argentina’s own recording companies started to grow at a very fast pace. Tango was the world's favorite social dance. The tango as an exotic novelty took Europe by storm. Musicians travelled to Paris, and many stayed there. Skilled dancers found job opportunities in the City of Lights as dance instructors for rich Parisian socialites.
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Alberto Paz & Valorie Hart, Gotta Tango

Samstag, Februar 9

Randnotizen um Tango - 8

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Teaism is a cult founded on the adoration of the beautiful among the sordid facts of everyday existence. It inculcates purity and harmony, the mystery of mutual charity, the romanticism of the social order. It is essentially a worship of the Imperfect, as it is a tender attempt to accomplish something possible in this impossible thing we know as life.
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Kakuzo Okakura, The Book of Tea
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... von einer teeistische Einstellung zum Tango kann jede Tanzerfahrung nur profitieren, glaube ich... Teeismus beim Tango könnte dann die Anerkennung der Unvollkommenheit des Lebens und ein herzlicher Versuch zu einer schlichten Harmonie der Körper und der Seelen während einer dreiminutigen Zweisamkeit heißen ...
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Freitag, Februar 1

Biographien aus der Tangogeschichte - 4 - Julio De Caro

Julio De Caro, eine der wichtigsten Figuren der Tangogeschichte, wurde 1899 als zweiter Sohn von zwölf Kinder einer Italienischen Familie in Buenos Aires geboren... Ein begabtes Kind, das dann mit seinem Orchester ab 1924 eine tragende Rolle in der instrumentellen Tangomusik spielte, die – nach Julio Nudler - nur mit dem Einfluss von Carlos Gardel auf den Tangogesang verglichen werden kann.

Sein Vater, Jóse, war der Leiter des Konservatoriums vom Teatro della'Scala de Milano und er kümmerte sich sowohl um die musikalische Ausbildung seiner Söhne, als auch darum, dass seine Kinder studieren. Es war sein Wunsch Julio Klavier und sein Bruder Francisco Geige spielen lernten.

Was hält denn er in der Hand?*
Ein erster Verrat der beiden Brüder am Vater war der Tausch dieser beiden Instrumente...

Nachdem Julio 1917 im Palais de Glace (in Recoleta) Roberto Firpo beim Canyengue-Spielen gehört hatte, stand der zweite Verrat fest: die Brüder haben dann angefangen, Tango (bzw. im Tango-Orchester) zu spielen.

Als der Vater dies erfuhr und auch, dass Julio sich weigerte, Medizin zu studieren, wie sein Vater von ihm erwartet hatte, warf er den 18-jahrigen Julio aus dem Haus und Francisco folgt seinem Bruder.

In seinem ersten Orchester, gegründet 1924, kommen drei De Caro Brüder zusammen: Julio und Emilio an den Geigen, Francisco am Klavier und Unterstützung von Luis Petrucelli (der kurze Zeit später von Pedro Laurenz ersetzt wurde) und Pedro Maffia an den Bandoneóns.



Er hat 1924 auch seine erste Aufnahmen (einschließllich zwei eigner Kompositionen - "Todo corazón" und "Pobre Margot" - ) gemacht und in den folgenden dreißig Jahren hat er mehr als 400 Lieder aufgenommen. Der Großteil dieser Aufnahmen sind aus den Jahren von 1924 bis 1932 und bei dieser Gelegenheit will ich sagen, dass ich persönlich die Tangos aus den späten 20er und frühen 30er sehr gerne höre und zu ihnen mit großem Spaß tanze... :)

Sein großes Geschick ist allerdings, wie er das Volkstümliche und das Alltägliche mit seinem einzigartigen Fingerspitzengefühl mit der „hohen“ Kunst verbindet.. Das ist das "Provokative" in seiner Musik, wie es von R.F.Thompson treffend so beschrieben wurde. Diese große Kunst kann man am Besten durch sein Meisterwerk 'mala junta' (1927) erfahren..

Und De Caros 'Bodeo' (1928), z.B., verkörpert nach Oscar Del Priore die musikalische Evolution, die von der De-Caro-Schule zu dieser Art von Musik gebracht wurde. Ich glaube, dass ist es, was R.F.Thompson mit diesen Worten meinte: „a composer emerged, Julio de Caro, who transformed the musical order“** und sein Ruf eilte De Caro schon 1928 international voraus...

Burak



Strohgeige
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Das Instrument

Das ist eine Strohgeige, die nach ihrem Erfinder Johannes Matthias Augustus Stroh (1828-1914) so benannt wurde, aber die auch als Phonogeige oder Cornet-Violine bekannt ist. Die "normale" Geige war für die frühe Aufnahmetechnologien viel zu leise. Die Strohgeige war dann eine Lösung in den 20ern, um ihren Laut stärker zu machen. Julio De Caro wurde 1925 mit diesem Instrument vom U.S.Amerikanischem Jazz-Musiker Paul Whiteman bekannt gemacht und er spielte es in den 20ern.

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Then something happened: a composer emerged, Julio de Caro, who transformed the musical order. He kept tango's rhythm but deepened its melody with an inimitable blend of symphonic and vernacular.

With a populist touch that honored buglers and organ-grinders and once even music boxes, he took pleasure both in European high culture and in Buenos Aires street textures. De Caro saw no contradiction in pleasing Italians who wanted bel canto and creoles who wanted a beat. He played the tango with well-trained performers who could read and write music. Many were Italo-Argentine, familiar with Rossini as well as milonga.

De Caro's accomplishment, blending concert and street, was extremely provocative.

Robert F. Thompson, „Tango, the art history of love