Tango und Gesellschaft nach 1917:
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Auch die Überwindung der elementaren Speilweise der frühen Tangoorchester ist das Ergebnis eines mehrjährigen Prozesses, der wesentlich mit der Steigerung der Leistungsfähigkeit der Musiker und zugleich mit dem gesellschaftlichen Funktionswandel des Tango bzw. mit der Veränderung der Gesellschaftsstruktur Argentiniens zusammenhängt. Die Musik des Tango und ihre Umsetzung in die Provokation unzüchtig anmutender Körperbewegungen oder der in den frühen Kompositionstiteln zum Ausdruck gebrachte Verstoß gegen Sitte und Anstand entspricht nicht mehr den sichtbaren Machtverhältnissen. Jenes Konglomerat von entwurzelten und rechtlosen Ein- und Zuwanderern, das im Elend der Arrabales und Conventillos vegetierte, hat ökonomisch, politisch und kulturell eine vergleichsweise bessere Position errungen. Auch für diejenigen, die Yrigoyen indifferent oder ablehnend gegenüberstehen, symbolisiert sein Regierungsantritt eine neue Äre demokratischer Mitbestimmung und Verantwortung. Der Tango bleibt zwar ein Mittel der antielitären Selbstbehauptung, nur werden die ästhetischen Ansprüche entsprechend dem eigenen Aufstieg wieder nach oben gesteckt. Aus der Provokation wird eine Demonstration der eigenen Leistung, in die man bald selbst so vernarrt ist, daß man sie kaum noch körperlich erfassen und umsetzen möchte. Das kulturelle Vorzeigeobjekt wird musikalisch auch zunehmend schöner herausgeputzt. [...]
Es sind vor allem die Texte, die die publikumsverdünnende Sublimierung des Tango verhindern. Sie geben ihm zum Ärgernis kunsterpichter Genießerohren die Erdenschwere einer nationalen Wirklichkeit, deren gesellschaftliche Probleme auch während der Kurzen Demokratiephase bis 1930 keine Lösung finden. Selbst wenn diese Probleme in ihnen nur partiell und indirekt zum Ausdruck kommen, lassen sie den Tango nicht in die Region geschmäcklerischer Kunstadepten entschweben, sondern halten ihn in den Schichten der Bevölkerung fest, für die die Geschichte des Tango ein Teil der eigenen ist. Oder umgekehrt. Es ist das Massenpublikum, das sich gegenüber Virtuosentum und Spezialisten durchsetzt und sich den Tango als Ausdrucksform seiner eigenen emotionalen Bedürfnisse vorbehält.
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Dieter Reichardt, Tango
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