Dienstag, Januar 1

Biographien aus der Tangogeschichte - 3 - Homero Manzi

Homero (Nicolás) Manzi(one) (1907-1951) war ein Dichter, der seine Gedichte, wie in poetischen Beschreibungen von R. Thompson, in „einer Geographie des Verlangens“ mit „einer Grammatik der Nostalgie“ geschrieben hat, der aber „nie ein Gedichtsbuch veröffentlich hatte“ (J.Nudler).

Auch wenn er als Kind aus dem Land (in Anatuya) geboren wurde, ist er in einer großen Stadt, in Buenos Aires aufgewachsen. Dorthin sind seine Eltern umgezogen als er noch ein kleines Kind war. So wurde Manzi als der Dichter von Barrio (des Stadtviertels) geboren und Barrio blieb immer der Ort und die Inspiration seiner Kunst.

Natürlich hat Plisson Recht, wenn er betont, dass sich Buenos Aires (und somit auch die Tango-Atmosphäre ) während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts stark verändert hat. Es war ja auch genau diese Erfahrung und die melancholische  Erkenntnis des Verschwindens einer unersetzlichen Stimmung in Barrios (wie San Telmo), die die Texte von Manzi prägten.

Allerdings lebte Manzi nicht in der Vergangenheit. Er „schaute zurück“, schreiben Birkenstock und Rüegg, „aber er war nicht rückwärtsgewandt.“

---

Er war ein Dicher mit zwei besonderen Qualitäten: Das inhaltliche Merkmal seiner Dichtung war mufarse, „bittersweet, like having the blues“ (R. Thompson), worüber ich ein anderes Mal ausführlicher schreiben werde, und das sprachliche Merkmal von Manzis Dichtung war seine bewusste Distanzierung vom Lunfardo.

Lunfardo, „as a new form of slang used by petty thieves“, der in Buenos Aires während spät-1870er auftauchte, so J. Baim, hat auch den Tango-Text beeinflusst und zur Etablierung der stereotypischen Vorstellungen vom Tango vieler Menschen heute beigetragen.

Allerdings wurde später einigen Autoren vorgeworfen, die ihre Texte weiterhin mit Lunfardo-Wörtern geschrieben haben, dass sie „'Talent durch lunfardo' [ersetzten], notiert Plisson, um vom Publikum geliebt zu werden. Was die Texter dieser Schöpfungen machten, so Birkenstock und Rüegg, betrachtete Manzi eher als eine Nachahmung der „stilisierten sprachlichen Klischees des Volkes.“

Obwohl Manzi, als ein Kind aus dem Barrio, „selbst Lunfardo sprach, schrieb er keinen seiner Texte in diesem Slang“, weil er sich nicht als Texter, sondern als Poet sah. (Birkenstock und Rüegg) Außerdem ist es auch bemerkenswert, was Plisson behauptet, dass Homero Manzi damals der Einzige war, der in der „einheimische[n] Dichtkunst ohne lunfardo bestehen konnte.“

Und das war vom Anfang an so, wie die unglückliche Anekdote veranschaulicht, dass er (als er vierzehn Jahre alt war) mit seinem Text 'El ciego del violin' (Der Blinde mit der Geige) an einem Wettbewerb den ersten Platz errang, aber die Jury ihn nicht gewinnen lassen wollte, weil seine Verse nämlich für einen Tango zu elaboriert seien.

Jetzt kommt aber das tolle Spiel des Schicksals! Genau mit diesem Text geht der Dichter Cátulo Castillo 1926 zum Komponist Sebasián Piana und sie komponieren gemeinsam den berühmten Tango 'Viego Ciego' (Alter Blinder)...

So kommt auch der erste große Erfolg in Manzis Karriere...

---

Ich gehe hier aber einen Schritt zurück zu seiner einheimischen Dichtung ohne lunfardo. Manzis „Einheimisch-Sein“ ist sehr wichtig hier, in dem Sinn, als dass hier ohne Klischees und in einer kreativen Art der 'Folklore' eines Volkes gedient wird. 'Einheimisch-Sein' ist hier stark mit dem 'criollismo' der Zeit verbunden, was auch viel mit einer geistigen Emanzipation von der europäischen Herkunft eines großen Teils der Bevölkerung zu tun hat.

Erlaubt mir hier bitte mit Euch zwei längere Zitate über dieses Thema zu teilen, weil sie nicht nur für Manzis Leben, sondern eigentlich allgemein für die Geschichte Argentiniens und damit natürlich auch für die Tangogeschichte sehr bedeutende Aspekte erleuchten.

Nach Plisson, „[führte] jenes 'kreolische Bewußtsein' zur Entwicklung eines eigenen kulturellen Brauchtums. Tatsächlich wandte sich die einheimische Gesellschaft (die Bewohner von Buenos Aires und Montevideo) am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem unaufhaltsamen Fortschreiten der Industrialisierung wieder traditionellen Werte zu. Im Hippodrom von Buenos Aires wurden 1880 cielito, zamba, gato und milonga, die traditionellen Tänzer der Pampa, getanzt. Der criollismo erfuhr eine Aufwertung, und mit ihm alles, was einen Bezug zu örtlichem Brauchtum hatte.

Natürlich läuft diese ganze Änderung Hand in Hand mit den politischen Entwicklungen in Argentinien. Malcher beschreibt diese Zeit folgendermaßen:

Die Criollo-Mittelschicht gründete im Jahr 1890 Argentiniens erste Massenpartei: die Unión Civica Radical (UCR), die Radikale Bürgeunion – an der mit Ausnahme des Namens nichts radikal war und die vor allem gegen die Privilegien der Oligarchie kämpfte. […] Bis zum Jahr 1930 setzte der Mittelstand Schritt für Schritt seine liberal bürgerlichen Forderungen gegen die Oligarchie durch. Das parlamentarische System stabilisierte sich, im Jahr 1912 wurde das allgemeine Männerwahlrecht eingeführt. Die UCR gewann 1916 mit ihrem Vorsitzenden Hipólito Yrigoyen die Präsidentenwahlen. Der Einfluss der Partei wurde unter dem exzentrischen Yrigoyen immer größer, mit Elan kämpfte er gegen die Privilegien der Oligarchie.* Er war vor Perón der populärste Politiker des Landes und ein Caudillo alter Schule.
[...]
[A]uch das boomende Argentinien blieb von der Weltwirtschaftskrise des frühen 20.Jahrhunderts nicht verschont. Der 1928 wiederwählte Yrigoyen stand hilflos gegenüber. […] [D]er Außenhandel Argentiniens sank rapide, der Haushalt kippte, und die Auslandsschulden stiegen ebenso wie die Arbeitslosigkeit. […]
Die konservative Rechte und das Militär hatten sich gegen ihn zusammengeschlossen. 'Nichts wird passieren', saggte der selbstherrliche Yrigoyen, als er von einem Mitarbeiter vor einem Putsch gewarnt wurde. […]
Mit dem Putsch von 1930 setzte eine neue Ära in der argentinischen Politik ein: die des Militärs. […] Sofort nach dem Staatsstreich versuchten die Putschisten die bürgerliche UCR politisch zu vernichten.


---

Alle diese Entwicklungen, sowohl der Aufstieg vom criollismo und der UCR, als auch der folgende Putsch im Jahre 1930 haben Manzis Leben (wie alle Lebensgeschichten dieser Zeit) stark beeinflusst.

Dank der mit dem criollismo steigende Popularität des Tangos hatte er seinen 'richtigen' Ort für einen künstlerischen Ausdruck gefunden und da ist er aufgeblüht.

Andererseits war Manzi auch Professor für Literatur und Spanisch, aber wegen seines politischen Engagements (zusammen mit seiner Mitgliedschaft in der UCR) hatte er seine Stelle verloren.

Nachher ist er „wegen seiner übermäßigen Begeisterung für den General“ dieses Mal aus der  UCR ausgewiesen worden.

Ein kurzes, aber sehr bewegtes und produktives Leben hat Homero Manzi gehabt. Er hat Drehbücher geschrieben, als Journalist gearbeitet, er war sogar eine Weile Leiter einer Zeitschrift.

Vor allem hat er aber die Texte von so vielen berühmten Tangos, Milongas und Walzer geschrieben, dass ich sie hier nicht alle aufführen kann. Stattdessen würde ich hier sehr gerne auf eine großartige Arbeit hinweisen: Ulrike und Eckart Haerter haben 2007 an Manzis 100. Geburtstag 100 Texte von ihm ins Deutsche übersetzt und netterweise haben sie dieses Buch sogar auch FREI ins Internet gestellt. Vielen vielen Dank!

Irgendwann mache ich bestimmt einen Manzi-Abend beim Trainingsabend und da schreibe ich dann wahrscheinlich mehr über seine Zusammenarbeit (u.a.) mit Piana und besonders mit Troilo, und natürlich auch über seine Dichtung... Heute reicht aber so viel, glaube ich... ;)

Burak


* Es ist meiner Meinung nach aber notwendig, zu notieren, dass Yrigoyen stärker gegen die Arbeiterklasse als gegen die Oligarchie gekämpft hat. Das ist vielleicht ein Teil der Erklärung, warum er keine Unterstützung vom Volk gegen den Putsch bekommen konnte, als das Militär die Macht ergriff.

Plissons Beschreibung der Ereignisse von Ende Dezember 1918 bis Mitte Januar 1919 veranschaulichen diese Seite von Yrigoyens Politik:


Im Dezember 1918 bestreikten 2500 Arbeiter den Metallbetrieb Pedro Vasena e Hijos, sie forderten höhere Löhne und den Achtstundentag. Der Streik zog sich hin, und als im Januar die Polizei anrückte, eskalierte die Situation. 30 Arbeiter wurden verletzt, vier Arbeiter waren am Abend tot, zwei davon ihnen wurden zu Hause erschossen, keiner war bei den direkten Auseinandersetzungen ums Leben gekommen. Es folgte eine Woche, die als 'Semana Trágica' in die Geschichte Argentiniens eingehen sollte. Am 9.Januar 1919, dem Tag nach dem Polizeieinsatz, war Buenos Aires eine Geisterstadt. Die Geschäfte blieben geschlossen, die Theater sagten Vorstellungen ab, die Straßenbahn fuhr nicht.

Antonio Berni
Nur ein großer Trauerzug zog durch die Stadt. Es waren die Arbeiter, die ihre Toten beerdigen wollten. Frauen, Männer und Kinder mit roten Fahnen, Sozialisten und Anarchisten marschierten auf der Straße, um ein Zeichen zu setzen, dass sie keine Angst hatten vor derjenigen, denen das Land gehörte. Es waren Tausende Arbeiter, die die Avenida Corrientes hinaufmarschierten, zum Friedhof Chacarita. Als der Zug an einer Kirche vorbeikam, riefen einige Anarchisten antiklerikale Parolen. In der Kirche hatten sich Polizisten verschanzt, sie eröffneten sofort das Feuer auf die Demonstranten. Erst gegen fünf Uhr am Nachmittag kam der Trauerzug auf dem Friedhof an. Dort tauchten während der Rede eines Arbeiterführers plötzlich hinter der Friedhofsmauer Polizisten auf. Erneut fielen Schüsse, zwölf Menschen starben auf dem Friedhof. Tags darauf kam es in der ganzen Stadt zu Arbeiterprotesten. Die Oberschicht befand , man müsse durchgreifen, einige von ihnen bewaffneten sich und schlossen sich zur Parapolizeitruppe 'Patriotische Liga Argentiniens' zusammen. Ihre bewaffneten Banden durchkämmten Arbeiterquartiere, überfielen Bibliotheken und sozialistische Clubs. Sie griffen das jüdische Viertel Once an, auf der 'Jagd nach dem Russen', sie zündeten Synagogen an und Bibliotheken. Insgesamt fielen dem Terror 700 Menschen zum Opfer.





Keine Kommentare: